[Erzählung] Der Zahn der Zeit

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Als Sajan eines Nachmittags in seine Schreibstube im Rauthaus zurück kehrt um einen Brief zu suchen, den er einst erhalten hatte, fällt sein Blick auf ein Pergament, welches sich zwischen den Seiten der Stadtchronik verborgen hat. Neugierig fischt er es heraus. Mit klammen Fingern setzt er sich auf den Stuhl. Es ist kalt in der Stube. Da die Amtsgeschäfte derzeit fast  komplett ruhen, wird der Raum kaum genutzt und daher auch nicht geheizt. Er dreht das Pergament und begutachtet es, bevor der es vorsichtig auseinander faltet. Es ist offenbar eine Aufzeichnung...doch der Rand des Pergaments ist schon leicht vergilbt un bröckelt leicht unter seinen alten Fingern. 

"Ich hasse dieses Papier." brummelt er in seinen Bart. "Halt keine Witterung aus und geht viel zu leicht kaputt..."

Vorsichtig nimmt der das geöffnete Pergament und legt es auf den Tisch vor sich. Er setzt sich seine Brille auf.

"Wollen wir doch mal sehen.." sagt er und beginnt zu lesen:

 

...des Klosters...

...berichte euch hiermit von dem...sich zutrug am...

...hoffe Ich, dass mein Bericht euch helfen wird, diese Chroniken zu vervollständigen und somit das Vergessen zu bezwingen. So berichte ich euch folgendes:

Es regnete in Tibershaven. Es regnete oft. Eigentlich fast immer. Selten war es in diesem Teil von Ottonien trocken oder gar durchgehend sonnig. Obwohl Tibershaven in der Südmark liegt, so wird es doch häufig von schlimmen Unwettern heimgesucht, welche sich aus den Gestaden der von Monstern und Ungeheuern bewohnten See an die Küste werfen und die See peitschen, dass die Wellen gar haushoch an die Ufer schmettern.

Zum Zeitpunkt dieses Geschehnisses, wurde Tibershaven wieder einmal von einer dieser Urgewalten heimgesucht. Schon am frühen Vormittag hatten sich am Horizont über dem Meer dunkle Wolkenberge zusammengezogen und aufgetürmt, als wollten sie den höchsten Bergen Ottoniens im Wettstreit entgegen treten! Kurz nach der Mittagsstunde rollte dann der erste Donner mit seinem mächtigen krachen über die Küste. Ihm folgten alsbald Blitze in von ungeheurem Leuchten. Ohrenbetäubend war jeder Donnerschlag, als würden Berge bersten und das Land selbst erbeben unter dieser Gewalt! Ein jeder Blitz, welcher dem Donner fast unmittelbar folgte, erhellte das Land für einen Augenblick in reinem Licht, so flüchtig, als wäre es eine Einbildung - doch so furchteinflößend als wäre das Unheil selbst der Hölle entkommen und würde sich nun anschicken, die Herzen der Menschen mit Furcht zu erfüllen!

Inmitten dieses wütens, stand - tapfer und unbeugsam - wie eh und je die Burg des Grafen Christian von Schwarzensee, jenem Herren in der Südmark, dem Tibershaven die Treue hielt und im Austausch dafür seinen Schutz erhielt. Doch so groß ein Graf auch sein mag, so vermögend er auch ist, so stark sein Heer, so kräftig sein Arm mit dem er das Schwert führt...so machtlos ist auch er gegen Gottes Werk und jene Kräfte die uns prüfen!

Inzwischen wird es dunkel. Sajan steht auf und entzündet eine Kerze. Die vertreibt zwar etwas die Dunkelheit, doch die Kälte des Raumes bleibt. In der ferne ist ein leises Grollen zu vernehmen und vereinzelte Tropfen schlagen auf die Fenster, als Sajan sich wieder an den Tisch setzt und mit dem lesen fort fährt:

So geschah es, dass inmitten der stürmischen fluten, welche sich an die Stege und Anleger des Hafens warfen  - und so manchen unter ihrer wucht gar bersten ließen - ein Regen einsetzte, welcher selbst für die so geprüften Bewohner der Südmark ohnegleichen ward! Als wäre das wüten des Meeres oder das krachende zucken der lichtenen Blitze sowie das tiefe, unheimliche grollen des Donners nicht genug gewesen, so öffnete der Himmel seine Pforten! Es ward als wäre die Welt umgekehrt und der Ozean mit seiner Gischt und seinen zornigen Wellen war plötzlich über uns! Herr im Himmel! Die Karren auf den Straßen wurden von den Flutartigen Massen hinfortgerissen, das Vieh auf den Weiden stand plötzlich in reißenden Strömen sinnflutartiger Bäche aus Schlamm und allem was die Berge hinabgespühlt wurde! Ein gefangener Strauchdieb, dem am nächsten Tag der Prozess gemacht werden sollte, ertrank gar augenblicklich in seiner Zelle im Keller des Rathauses! Nach dem Unwetter sollte man einen Tag brauchen im seinen Leichnam aus dem Schlamm in der Zelle herauszubuddeln.

Doch dies war nicht das erschreckenste in diesem verheerenden Ausbruch der Naturgewalten!

Ein Blitz - wohl gar der mächtigste unter den Lichterscheinungen - fuhr unter einem Geräusch in den Stein der Burg, als wolle jemand mit einer Gabel eine Tafel entlangkratzen um sich durch sie hindurch zu graben! Dieses entsetzliche Geräusch, welches Ich noch in meinen Zähnen spühren konnte, wurde gefolgt von einem unmittelbar darauf erklingenden Knacken welches sich sofort in ein Krachen und rumpeln verwandelte!

Ich saß zu dieser Zeit in der Kappelle außerhalb des Ortes, wo ich versuchte die Reliquien vor dem eindringenden Wasser zu schützen. Bewohner jedoch berichteten mir, dass der Blitz in den hohen Turm der alten Gastburg - die seit jeher vom Ritter oder von hohen adeligen Gästen bewohnt wird - einfuhr und mit solcher Macht durch den Stein schlug, dass gar die obersten drei Stockwerke des Turmes in einem schrecklichen Getöse zu Boden fielen und dabei einen Teil der Palisade des Ortes unter sich begruben! Einige Stücke des Mauerwerks solle gar so heftig vom Zorn des Blitzes erfasst worden sein, dass sie bis ins Dach des Fleischers geschleudert wurden! Gott sei Dank, war dieser zum Zeitpunkt des Geschehens nicht in seinem Haus. Er stemmte sich, so ließ ich mir sagen, mit anderen Gästen in der Taverne gegen die eindringenden Fluten, welche von der Burg herab sich mit anderen Strömen vereinigten und dann angepeitscht durch immer weiteren Regen hinab in den Ort flossen!

Nun, einen Tag später, können wir sagen, dass nicht die Wut und Gewalt des lichtenden Blitzes, nein, auch die Zeit und das Alter des Turmes für seinen Einsturz gesorgt haben! Hat doch ein fähiger Architekt dieses Bollwerk einst im Auftrag des noch jungen Grafen errichten lassen, so war es doch nicht gut genug um den Naturgewalten zu trotzen.

Der Zahn der Zeit, der wohl schon etwas länger - vor allem durch das nasse Wetter und die sturmgepeitschten Winde dieser Region - an diesem Turm nagte, hat seine Fänge nun endgültig in seine Beute geschlagen.

Vlt. wird der Turm eines Tages wieder aufgebaut. Doch zuvor werden wir die Trümmer entfernen und sehen, was noch alles beschädigt worden ist!

Ich glaube...

...so Gott will, dass...

 

[Der Rest des Pergaments ist der Zeit und dem Vergessen zum Opfer gefallen]

 

Stirnrunzelnd legt Sajan die Brille zur Seite. Er ist alt geworden. Doch er erinnert sich an einen Mönch oder Priester, der einst in Tibershaven weilte.
"Soso..." grummelt der gedankenverloren vor sich hin. "Ich habe diesen Turm nie repariert...hab ich es vergessen?" sagt er mehr zu dem Papier gewandt als zu sich selbst.

Dann steht er auf, pustet die Kerze aus. "Vielleicht ist es ja besser so. Wozu gegen den Zahn der Zeit ankämpfen...er gewinnt doch sowieso..."

Regen schlägt an die Scheibe der Stube und ein unheimlicher Wind heult draußen vor dem Haus. Er wirft sich seinen Mantel über und zieht die Kapuze über den Kopf. Dann dreht er sich um und schließt hinter sich die Tür, als er den Raum verlässt.

Grelles Licht, begleitet von einem knacken erhellt für einen Moment das Pergament, das noch offen auf dem Tisch liegt.

Ein tiefes Grollen schiebt sich dumpf von draußen über den Ort.

Der Regen wirft sich gegen die Fenster.

Draußen geht eine Gestallt mit einem Mantel und einer tief ins Gesicht gezogenen Kapuze durch schlammige Straßen nach Hause.

Wasser perlt von dem eingefetteten Umhang und kleine Bäche von Wasser umspielen die Füße bei jedem Schritt.

Noch einmal wird die Gestallt von einem hellen Licht für nur einen Augenblick sichtbar, dann ist es wieder Dunkel und die Gestallt ist hinter der Hausecke verschwunden.

Der Regen trommelt unermüdlich auf das Dach.

Ein Blitz erhellt ein altes Pergament auf einem Tisch.

Donner grollt tief und gefährlich.

 

 

 

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