[Geschichte] Vom Hause Rauenfels und weiteres. Bd. I

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Das morsche Holz der Dielen knarrte, als jemand leise und vorsichtig auf sie trat. Die gebeugte Gestalt hielt inne und lauschte. Niemand bemerkte sie; das gesamte Haus schlief tief und fest. Nur der Wachhund der Familie Rauenfels saß draußen in seinem Zwinger und winselte dem Vollmond entgegen.

Sein kaltes Licht traf auch auf das Gesicht des jüngsten Sprösslings derer von Rauenfels. Otto war gerade einmal neun Jahre alt, und würde als ältester Sohn einmal der Erbe des Vermögens der Familie und des kleinen Gutes Angrenost werden. Er war die einzige Hoffnung der Familie, nicht auszusterben, denn Karl Rauenfels und seiner Gemahlin Alexandra Comnena, einem jungen Mädchen aus einem kleinen, unbekannten byzantinischen Geschlecht, waren bisher von dem Allmächtigen nur weibliche Nachkommen geschenkt worden. So achteten sie auf ihr Söhnchen wie auf ihren Augapfel, um dafür zu sorgen, dass er einst ein fähiger Regent über sein Eigentum werde – anders als sein Großvater und sein Großonkel, Peter und Kaspian Rauenfels, die es nicht vermochten, Angrenost auf eine glückliche Bahn zu lenken.

Die vermummte Gestalt schlich weiter über das Holzparkett, stets aufmerksam, von niemandem beobachtet zu werden. Schließlich gelangte sie zu einer fein gearbeiteten Tür am Ende eines langen Flures. Die Person murmelte kichernd ein paar unverständliche Worte und zog etwas Glitzerndes aus einer Ledertasche.

Kaspian und Peter Rauenfels, die beiden Begründer ihres Geschlechts in Ottonien, hatten es noch nie leicht gehabt. Nachdem zuerst Kaspian sich in dieses unbekannte Territorium gewagt hatte, holte er seinen Bruder nach, und sie beide gründeten auf einer Bergkuppe am Orientalischen Meer eine Ansammlung von wenigen Hütten, die sie stolz „Angrenost“ nannten. Doch ihnen war nur karger Erfolg beschert; es mangelte ihnen an Geld, Siedlern, Beziehungen, und, nicht zuletzt, an Erfahrung. Doch Stück für Stück, Stein für Stein und Nagel für Nagel errichteten sie nach langer Arbeit eine kleine Wohnstatt für sich und ihre Nachkommen.

Doch dann geschah das, was niemals hätte geschehen dürfen.

 

Die Gestalt schloss die Tür mit fast krankhafter Vorsicht auf, und blickte sich dabei stets wie ein gejagtes Tier um. Als die Pforte endlich offenstand, näherte sich das Wesen langsam dem Bett in der Mitte des Raumes, in dem Otto Rauenfels, das mondbeschienene Gesichtchen von einem sanften Lächeln umspielt, nichtsahnend vor sich hin schlummerte.

 

Peter Rauenfels, jung und ungestüm wie er war, verliebte sich schon bald bis über beide Ohren in ein arabisches Mädchen, das oft an eine Bucht nahe Angrenost kam, um ihre Wäsche zu waschen und zu baden. Das eindringliche Ermahnen seines Bruders, er solle ruhig bleiben und sich nicht von seinen Gefühlen übermannen lassen, trafen auf taube Ohren. Peter traf sich immer häufiger mit seiner Geliebten, und blieb den wichtigen Geschäften in Angrenost fern. Und es kam, wie es kommen musste: Das Mädchen gebar ein uneheliches Kind, dass nun den letzten Faden der bereits arg gespannten Beziehung zwischen Kaspian und seinem Bruder reißen ließ. Kaspian tobte vor Wut, dass sein Bruder die Ehre des Hauses Rauenfels in solch einer Weise geschändet hatte, dass er in seinem Zorn seinen Bogen packte und dem armen Mädchen, das wie gewöhnlich seine Wäsche unten am Meer wusch und ihr Neugeborenes auf dem Rücken trug, einen Pfeil durchs Herz jagte.

Daraufhin kam es zur offenen Fehde zwischen Peter und seinem Bruder Kaspian, in welcher der erste, von wahnsinniger Trauer zu seiner Geliebten und ihrem Kind gepackt, mit seinem Schwert zuerst Kaspians Klinge entzweihieb und den um Gnade flehenden Bruder ohne Mitleid mit einem schrecklichen Schlag in der von Kopf bis Fuß in zwei Stücke spaltete. Sein Schwert wurde von dem fürchterlichen Kampf wundersamerweise nicht beschädigt; doch seine Schneide war mit dem Blut seines eigenen Bruders befleckt, dass sich nicht wieder abwaschen ließ. Peter schloss dieses letzte Mahnmal der unheilvollen Tragödie in einer Truhe in seinen tiefsten Kellern ein, und versuchte das Ganze zu vergessen. Als er am nächsten Tag am Meeresufer noch nach der Leiche des Mädchens und des Säuglings suchte, waren sie verschwunden. Er meinte, sie seien wohl von der See verschlungen und auf dem Meeresgrund beigesetzt worden, und ging trauernd wieder heim.

Doch dem war nicht so. Am vorigen Abend fand der Vater des armen Mädchens ihre Leiche, ebenso wie ihr Kind. Er wusste ebensowenig über ihre Beziehung zu Peter Rauenfels wie Kaspian, und war im ersten Augenblick von übermäßiger Trauer, Mitleid und Zorn erfüllt. In seinem Grimm wollte er das Kind zuerst erschlagen, doch besann er sich und ließ es im Gedenken an seine ermordete Tochter leben und erzog es in seinem Haus wie seinen eigenen Sohn. Er brachte ihm sowohl die Sprache und Gebräuche der Araber bei als auch ihre Kampf- und Reitkunst. Doch als der Knabe sein zehntes Lebensjahr erreicht hatte, gab er ihn in die Obhut eines Ordensritters, der aus dem Westen kam und ihm die Lebensart seines Vaterlandes nahebrachte.

Am vierzehnten Geburtstag überreichte sein Ziehvater dem Jungen eine silberne Schatulle orientalischer Machart, in die wertvolle Juwelen eingelegt waren.

„Mein Sohn“, sprach er, „ich habe dich alles gelehrt, was du wissen und können musst, um in der harten und ungerechten Welt dort draußen zurechtzukommen. Du bist stark und gewandt; und ich zweifle keinen Augenblick daran, dass du es einmal zu etwas Großem bringen wirst.“

Der Junge nickte leicht errötend, doch sein Vater fuhr fort: „Du wirst dich bestimmt zuweilen gefragt haben, warum du nicht dieselbe dunkle Hautfarbe hast wie ich und deine Mutter, oder warum das Haar auf deinem Kopf braun ist und nicht schwarz. Es ist eine traurige Geschichte; doch du bist alt genug, dass du sie hören musst.“

Und so erzählte er dem Knaben von seinen wahren Eltern, von dem Bruderstreit der Rauenfelser und wie er zu seinen Zieheltern kam.

„Diese Schatulle“, sprach der Araber, „stammt von deiner wahren Mutter – meiner Tochter und deiner Schwester. Sie enthält ein Bild deiner Eltern, sowie das Tagebuch deiner Mutter und andere Kleinodien von ihr.“

„Was ist das hier?“ fragte der Junge, indem er ein scharfes Stück Metall in die Höhe hielt.

„Das“, sprach der Vater, „ist der Pfeilkopf, der einst das Herz deiner Mutter durchbohrte. Der Mann, der ihn abschoss, hat bereits sein gerechtes Ende gefunden, doch bei Gott, ich ahne, dass es deine Pflicht sein wird, dich dem Bruder dieses Unglücklichen – deinem Vater – zu stellen und ihn zur Rechenschaft zu ziehen.“

Der Junge nickte betroffen, dies war alles etwas viel für seinen jugendlichen Verstand. Der Araber sprach darum, als ahne er seine Gedanken:

„Natürlich müssen all diese traurigen Neuigkeiten dein Herz aufwühlen. Doch bedenke eines: Zügle deine Gefühle. Dein Vater tat es nicht, und unsägliches Leid erwuchs daraus. Du hast die schöne Gestalt deiner Mutter, aber das Temperament und die Unbändigkeit deines Vaters. Halte sie im Zaum, und sie werden dir gute Dienste leisten. Doch lass ihnen freien Lauf, und sie werden dir zum Verhängnis werden.

Ich werde dich nun in die Obhut eines guten Freundes von mir geben. Sein Name ist Alexios Komnenos, und er ist Lehensherr der kleinen Einsiedelei Tripolis. Er ist ein gerissener Mann, doch braucht er eine helfende Hand bei der Verwaltung der Geschäfte des Ortes. Ich werde dir eine Karawane mitgeben, damit du sicher bei ihm ankommst.“

Die Augen des Knaben füllten sich mit Tränen, doch er schluckte sie mannhaft hinunter und nickte zum dritten Mal. Nachdem er seine wenigen Habseligkeiten gepackt, auf ein paar Kamele geladen und den Dienern gerade das Zeichen zum Aufbruch gegeben hatte, rief ihn sein Vater noch einmal zu sich und drückte ihm etwas in die Hand.

„Wenn dein Weg dich noch einmal in diese Gegend führen sollte, trage dieses Siegel stets bei dir. Es wird dich als einen Freund dieses Volkes ausweisen, und jedem hier wird es eine Freude sein, dir dienen zu können. Dein Name unter uns ist Ibn al-Saqqad, doch in dem neuen Land, in das du ziehst, sollst du den Namen Raymond tragen – Raymond von Tripolis. Die Ordensritter, die in dieser Gegend wohnen, werden dich daran erkennen. Nun lebe wohl, und mögen sich unsere Wege irgendwann wieder kreuzen!“

Mit diesen Worten gab der Araber dem Leitkamel einen Klaps, und die Karawane setzte sich in Bewegung. Noch lange winkte Raymond seinem Ziehvater nach, doch dann blickte er fest geradeaus, seiner neuen Zukunft entgegen.

 

Das Wesen schlich an das Bett des Jungen heran. Der Schatten seiner großen, unförmigen Kapuze warf einen schwarzen Schatten auf das Gesicht des Knaben. Plötzlich warf der Unbekannte seinen Umhang weg, und im kalt glitzernden Mondschein stand…

*die folgenden Worte wurden durch einige Weinflecken unlesbar gemacht*

 

(Respekt, wer bis hierhin gelesen hat, Fortsetzung folgt)