[Tagebuch] Von Níðhǫggr und der Lehre durch Schmerz.

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Vorwort der Autorin:
Wer es schafft das zu lesen kriegt einen imaginären Keks - Glutenfrei, Vegan und ohne pflanzliche Fette. So nahrhaft wie eine Socke.

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Sie saß an ihrem Tisch, vor ihr ein Stapel voll mit Büchern.
Ein warmer Sommerwind wehte durch das geöffnete Fenster in das Zimmer, in der Ferne hörte man einen Wolf heulen. In der Ruhe dieser Nacht saß Grimoire alleine da und sah der Kerze dabei zu, wie sie zu einem kleinen Haufen Wachs zusammen schmolz.
Die Lektüre welche sie vor sich hatte diente ihren Giftstudien. Ein altes, langweiliges Buch und selbst für Grimoire war es zu zäh. Ermüdet streckte sie ihren Körper aus ihrer sitzenden Position aus in die Höhe und stieß dabei gegen das Bücherregal über ihrem Kopf.
Das morsche Brett brach, krachte herunter und traf ihren Kopf - Gefolgt von sämtlichen Büchern und Schriften, welche sich auf diesem befanden.
Fluchend sprang sie auf und schaffte es gerade so das letzte Buch, ein besonderst dickes Buch aus dem Orient (Es handelte von Wasserpflanzen.) aufzufangen und auf ihren Tisch zu legen.
Überall lagen nun Bücher herum, genau wie das zerstörte Regalbrette. Grummelnd kniete die weißhaarige Frau sich nieder, hob das Brett unter den Büchern hervor und stellte es an die Wand. Der Nagel war durchgerostet wie es ihr schien. So hatte sie nicht geplant, ihre Nacht zu verbringen.
Lautlos fiel die schwere Eichentür hinter ihr ins Schloss als sie sich mit pochendem Schädel durch die von Fackeln erhellte Straße schlich in Richtung Nachbarshaus - Joshiteru's Haus, der Schmied.
Geschickt kletterte sie über die rissige Steinmauer auf den kleinen Vorhof und schlich zum Fenster, wo sie eine Hand hindurch in das Innere des Hauses streckte und behutsam auf der darunter liegenden Werkbank nach einem Hammer und einigen Nägel tastete.
Schließlich umgriffen ihre zarten Finger den massiven Griff des Hammers, ehe sie auch noch einige Nägel erblickte. Einen schnipste sie gekonnt auf den Boden des schlafenden Schmiedes in der Hoffnung er möge am Morgen herein treten. Sie kicherte leise über ihren kindischen Streich, ehe sie sich mit ihrem Diebesgut wieder zurück zu ihrer Behausung stahl.
Notdürftig wurde das Regal repariert und so machte sich Grimoire daran, die kostbaren Lehrbücher wieder hinein zu stellen als sie stockte. Unter einem Buch über die Wirkung von Tierblut hatte sich ein dünnes, billig gebundenes, schwarzes Lederbüchlein versteckt. Auf dem Umschlag war alt und bereits kaum noch zu erkennen der Fuchs ihrer Familie geprägt.
Sie schloss für einen Moment ihre Augen. Sie hatte ihr Tagebuch seit Ewigkeiten nicht mehr in der Hand gehabt und fast seine Existenz vergessen...
Gedankenverloren ließ sie sich auf den sauberen Dielenboden fallen und lehnte sich an ihre Wand. Sie betrachtete gedankenverloren die einst feine Prägung auf dem Umschlag, ehe sie schließlich mutig die erste Seite aufschlug.
Sie hatte angefangen Tagebuch zu schreiben als ihr Vater erkrankte. Damals war ihre Handschrift leienhaft gewesen - Wie man sich eben die eines Kindes vorstellte. Sie wollte nicht an diese Zeit zurückdenken und übersprang die Seiten. Ihre Handschrift wurde kursiver, flüssiger je weiter sie im Buch vorran sprang.
Schließlich kamen die erste Seiten, welche in der schottischen Sprache geschrieben waren. Davor hatte sie stehts in nordischen Runen geschrieben. Ab und zu, wenn sie sich ein Rezept notiert hatte, hatte sie auch auf arabisch geschrieben wenn sie die Übersetzung des Wortes nicht kannte.
Sie las zwischen den alten, vergilbten Seiten. An manches konnte sie sich nicht mehr erinnern, manche Einträge lagen Wochen und Monate auseinander. 
Sie kam beim letzten Eintrag an. Ihre Schrift war anders - Schnell und klein, als hätte sie versucht möglichst schnell möglichst viel auf möglichst wenig Papier zu schreiben. Er begann mit einer simplen Überschrift - Welche es dennoch vermochte, Grimoire einen unangenehmen Schauer der Erinnerung über den Rücken zu jagen.

"Ich habe es über die Grenze geschafft und befinde mich nun auf der Straße nach Memleben."

Sie erinnerte sich sehr, sehr gut an diesen Tag. Sie war auf ihrem Pferd noch in den Dämmerstunden unterwegs gewesen. Ein Fehler wie sich herausgestellt hatte.... Sie rieb sich den Schlaf aus den müden Augen, ehe sie ihre Aufmerksamkeit auf die Seiten des Buches richtete.

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Grimoire Weiss klammerte sich mit aufgeschürften, wunden Händen an die Lederzügel des Rappen. Die Dämmerstunden wichen langsam, aber sicher der Nacht und mit der Nacht - Dies wusste sie - Kamen Banditen und Wölfe.
Jedoch hatte sie die Wölfe als größere Gefahr eingeschätzt und so ritt sie den Weg entlang. Trotz allem konnte sie die Biester aus den Wäldern heraus grummeln und knurren hören. Aber nur die hungrigsten Wölfe würden es wagen jemanden zu überfallen, welcher auf einem Pferd die Straße entlang galloppierte.
Sie hatte dieses Pferd seit dem Tag, an welchem sie ihre Heimat verlassen hatte. Zuverlässigt hatte es sie durch die Wüste und über die Berge getragen. Er trug den Namen Níðhǫggr und diesen hatte dieses treue Ross mehr als verdient. Wenn Níðhǫggr galloppierte bebte die Erde unter ihm und seine donnernden Hufe trugen ihn stehts sicher und schnell an sein Ziel. Ebenso die zierliche, kränklich wirkende Frau auf seinem Rücken.
Sie war diesen Weg einmal entlang geritten und damals war sie eine junge Frau von 14 Jahren gewesen. Doch wenn sie jetzt eine Person in diesem Alter sah, sah sie ein Kind. 
Als sie das erste mal diesen Weg entlang geritten war, hatte sie nichts über das Land außerhalb von der Schneeküste gewusst. Sie wusste nur von Namen und mehr Namen aber nicht, wie sie diese einteilen konnte. Doch jetzt wusste sie von König Laza, welcher über den Kontinent herrschte, von den kriegerischen MacMuray's und ihrem Kampfgeschick, Vom Jarl des Nordens welcher sich von König Laza unabhängig erklärt hatte, Von den Lords des Herzbundes sowie von jedem anderen hohen Namen und jeder Lordschaft - Von Skrel bis Carham.
Das Gefühl des Wissens wiegte sie an diesem Abend in eine falsche Sicherheit. Die heißen Wüste des Orients hatten ihr das kalte Nordblut ausgetrieben. Sie fror zum ersten Mal seit Jahren, weshalb sie einen dicken Schal um ihren Hals und ihre Schultern gewickelt hatte. 
Jeder andere, welcher bei Nacht ritt hätte mit dem gerechnet was passieren würde. Vor allem als Frau. Vor allem als Frau, welche alleine war. Und es passierte bei einer Unterführung des Weges, wo links und rechts zwei hohe Felsen Deckung boten. Sie hörte, wie ein Pfeil die Luft zerschnitt ehe Níðhǫggr, das treue, schwarze Pferd - Geboren zwischen Schnee und Eis, tapfer und mutig wie sonst keiner - zu Boden stürzte. Die Zügel wurden ihr durch die Hand gezogen und hinterließen aufflammende, schmerzende brandwunden auf dem zarten Fleisch. Níðhǫggr stürzte mit einem erbärmlichen Wiern in vollem Gallopp zu Boden und schmiss so seine Reiterin von sich. 
Sie hatte noch Glück gehabt, nicht unter seinem Gewicht begraben zu werden. Einige Meter rollte sie über den Boden, ehe sie auf der Straße zum halten kam.
Stöhend stützte sie sich mit einer Hand auf und richtete den Kopf zu den Felsen, wo sie die Silouette von fünf Gestalten ausmachen konnte. Zwei von ihnen waren mit Bögen bewaffnet, weitere zwei mit Schwertern und der letzte im Bunde hielt eine silbrige Flasche in der Hand, deren Inhalt im fahlen Licht des Mondes leicht silbrig zu schimmern schien.
Grimoire hatte nie erfahren, ob es Banditen, Vogelfreie oder aber verarmte Bauern gewesen waren.Ihre Handflächen brannten. In ihren weißen Haaren hing Laub und Geäst. Ein Loch klaffte an ihrem Oberteil.
Langsam wanderten ihre Augen zu ihrem sterbenden Pferd, ehe alter Hass in ihre Augen trat. Wikinger, Nordleute... Sie waren bekannt für den Jähzorn welchen sie empfinden konnten.
Das sie sich noch einmal aufrappelte hatten ihre Angreifer wohl nicht gedacht und um ehrlich zu sein waren die Götter in jener Stunde an ihrer Seite gewesen und hatten mit ihr gekämpft. Sie sprang auf ihre Beine, hechtete die drei Meter hinüber zu ihrem Pferd, zog ihren Bogen und zwei Pfeile aus der Satteltasche. Einen der Pfeile hielt sie zwischen ihren Zähnen, den anderen legte sie in die Sehne und feuerte einen gezielten Schuss auf einen der Bogenschützen. Ehe ihre Angreifer reagieren konnten hatte sich einer der Pfeile in den Hals des Bogenschützen gebohrt, welcher mit einem gurgelnden Schrei zu Boden ging. Wilder Hass brannte in ihren Augen, als sie die übrigen betrachtete.
"IHR VERFLUCHTEN, DRECKIGEN BASTARDE!",schrie sie wutentbrannt, ehe sie den zweiten Pfeil einlegte. Doch da waren ihre Silouetten bereits vom Felsen verschwunden.
Sie sah nicht gut in der Dunkelheit. Aber sie hörte die Nahkämpfer, wie sie auf sie zurannten. Mit geweiteten, eisblauen Augen und einer grässlichen Grimasse als Grinsen legte sie den zweiten Pfeil ein und schoss blind in die Dunkelheit. Ihr Pfeil surrte durch die Dunkelheit, fand jedoch kein Ziel.
Weder trug Grimoire eine Rüstung, noch war sie erprobt im Kampf mit dem Schwert. Ein Schlag war ausreichend um sie zu Boden zu bringen und ihr armseliges Leben zu beenden. Vor einigen Monaten, als sie so viel gelesen hatte das sie das erste bereits wieder verlernt hatte, wäre das kein Problem gewesen. Aber jetzt ruhte ein zerknitterter, hunderte male gelesener Brief eines alten Bekannten in ihrem Beutel welchen sie nach Memleben bringen musste... Würde man sie da nicht auffinden, so würde man schulterzuckend weiter gehen und ihr Name war am nächsten Morgen vergessen, nie wieder gehört. Von ihrem Leben, von ihrem Leiden und von ihrer Liebe würde nichts mehr auf diesem wertlosen Stück Stein existieren. Weitere namenlose Knochen im Fluss, in der Erde - Wo auch immer man sie hinschmeißen würde.
Aber wenn sie es schaffte, wenn sie ihren Fehler überlebte - Vielleicht würde es dann Menschen geben, welche sich an ihren Namen erinnern konnten. Welche ihre Aufzeichnungen lesen und schätzen würden. Imaginäre Kinder, Freunde, Enkel, Großenkel.... Großenkel, welche ihr an ihrem 100sten Geburtstag zu ihren Taten gratulieren würden, welche sagen würden: "Wir sind Stolz auf das, was du vollbracht hast."
Grimoire bekam zwei weitere Pfeile zu fassen, ehe sie Deckung hinter einem Baum suchte. Die Wölfe waren verstummt, lauschten der Schlacht, ihrem heftigen Atem und den Schreien ihrer Angreifer und des Mannes, welchen sie gerade getötet hatte.
Sie konnte zwei Personen ausmachen als sie hinter dem Baum hervor sah und einen Pfeil abschoss, welcher an der Rüstung ihres Zieles apprallte und dort nur eine weitere tiefe Kerbe neben vielen anderen hinterließ. 
Sie hielt Inne. Warte.... Zwei? Sie waren zu viert gewesen. In diesem Moment, als ihr das klar wurde schlug ein Pfeil nur Zentimeter neben ihrem Gesicht in den Baum ein. Weiße, abgetrennte Haare schwebten wie in Zeitlupe durch die Luft ehe sie geschockt nach vorne Blickte, in die giftgrünen Augen des Trankbrauers, welchen sie auf dem Felsen gesehen hatte.
Sie spannte ihren letzten Pfeil ein und hob schnell den Bogen, doch da zersprang auch schon eine Flasche über ihrem Kopf am Baum. Glassplitter regneten auf sie herab, als sie seinen Hals mit ihrem Pfeil durchbohrte. Einen Meter vor ihr ging der Trankbrauer zu boden und blieb dort liegen.Die silbrige Flüssigkeit jedoch tropfte auf ihre rechte Gesichtsshälfte und als sie den Baum herauf blickte landete ein Tropfen genau auf der empfindlichen Netzhaut ihrer Augen.
Es fühlte sich so an, als würde ihr das Auge aus dem Kopf geätzt werden...! Grimoire Weiss ließ den Bogen fallen, stürzte zu Boden und schrie wie eine besessene, als sie sich über den Boden wälzte und versuchte die Säure von sich zu bekommen. 
*Du bist eingerostet, Grimoire Weiss!*
Sie tat alles, während ihre Sicht verschwamm. Sie rieb sich Dreck in das bleiche Gesicht, sie wischte mit ihrem Schal darüber, aber es half nichts mehr. Mit pochendem Auge, brennenden Händen und flachem Atem tastete Grimoire blind nach ihrem Bogen, ehe sie das schwere Holz zu fassen bekam. Da waren noch immer drei von ihnen... Sie zog den Pfeil aus dem Körper des Trankbrauers, zog zittrig die Sehne und verfehlte ihr Ziel um mindestens zwei Meter. DIESE VERFLUCHTEN SCHWEINE HATTEN SIE BLIND GEMACHT! Angst und pochende Wut beherrschten sie, als sie tiefer in den Wald krabbelte und hinter einem Baumstumpf Schutz suchte.
Sie hörte das Hufgetrappel nur gedämpft und als sie über den Stamm sah, erblickte sie das weiß-rote Wappen der Kreuzritter welche die Banditen niederschnätzelten. Sie biss sich inzwischen auf die eigene Hand, um diese christlichen Mistkerle nicht auf sich aufmerksam zu machen und um ihre Schreie zu unterdrücken. Blut lief ihre Wange herab, während der pochende Schmerz sich ausbreitete. Blut spritzte zwischen ihren Zähnen hervor, während sie immer fester zubiss.
Die Kreuzritter nahmen alles mit. Die Rüstungen, ihren Proviant und ihr Gepäck und die Waffen der toten Banditen. Salzige Tränen vermischten sich mit dem Blut während Grimoire Weiss im Gestrüpp kauerte und darauf wartete, dass sie verschwanden. Sie hörte die Wölfe in den Wald fliehen und schließlich, als die Kreuzritter wirklich alles mitgenommen hatten verschwanden sie und Grimoire Weiss wurde von der Ohnmacht überfallen.

Als sie erwachte ging die Sonne gerade auf. Der Schmerz in ihrem Kopf und in ihren Händen hatte nachgelassen, aber er war nicht verschwunden. Stöhnend stand sie auf und ging wieder hinüber zum Schlachtfeld. Zwei Raben stritten sich um die Leichen ihrer Angreifer. Ihr Pferd war verschwunden, vermutlich hatten die Wölfe es in den Wald gezogen. Grimoire humpelte an den Raben vorbei, welche keine Notiz von ihr zu nehmen schienen und ging Stur weiter die Straße nach Memleben entlang. Bei einem Gewässer reinigte sie ihr Gesicht und ihre Wunden, ihr Auge und ihre Hand verband sie notdürftig mit Stoffstücken von ihrem Schal. Sie hatte mehr Glück als Können gehabt in diesem Kampf, hatte leichtsinnige Fehler begangen und ebenso gut ihren Tod finden können. Anscheinend wusste sie doch nicht alles, was sie für wichtig erachtet hatte...
 

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Grimoire schlug das Buch zu und seufzte leise, ehe sie aus dem Fenster blickte. Hinter der Kirche ging gerade die Sonne auf. Die Narben an ihrer Hand waren ihr geblieben und auch ihr Auge hatte sich nie wieder erholt. Sie hatte wieder mit dem Bogen geübt, doch so gut wie früher war sie nie mehr geworden. Man konnte aus jeder Wunde, aus jeder Schlacht eine Heldetat machen - Aber sie hatte dumme Fehler begangen. Dumme Fehler, welche sie viel gekostet hatten. Es hatte nie eine Mutter gegeben, welche ihr als Kind nach einem Fehler gesagt hätte "Versuch es nochmal, du hast dein bestes getan." Es gab keine Wiederholung, keine Wiedergutmachung. Man lebte und lernte. Und sie hatte gelernt.
Grimoire stand langsam auf, streckte ihre steifen Glieder und stellte das kleine Lederbuch zurück zwischen die anderen, wo es kaum auffiel. Vielleicht würde sie es irgendwann erneut hervor ziehen wenn ihr danach war, in der Vergangenheit zu graben.